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Die Queen of England und das Glueck des kleinen Mannes


gajUli

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Der kleine Mann von der Strasse ist ein vielzitiertes Wesen, aber niemand kennt einen und keiner will es sein.

Gestern ist es dann passiert, ich traf einen.

Ja wirklich, gestern, an einem Sonntagabend zwischen Weiberfastnacht und Rosenmontag in der Vochelbude. Die Vochelbude ist eine Eckkneipe und heisst eigentlich Taubenschlag, gelegen gegenueber einem Supermarkt und ein paar Haeuser von der Polizei entfernt. In die Vochelbude kann man einfach so gehen, ohne Verabredung, denn man trifft immer vertraute Gesichter.

Manchmal allerdings feiern die Polizisten, die einen Lehrgang hinter sich haben, den gelungenen Abschluss mit einem Abschuss, von manchen als Jungbullenfest tituliert, was aber nicht abfaellig gemeint ist. Wenn sie fertig sind, werden die frisch examinierten Gesetzeshueter von ihren Frauen abgeholt oder von Taxis. Eigentlich sind es also auch kleine Leute, genau wie die Vertreter der Feuerwehr, die dort ebenfalls Jungbullenfeste veranstalten, allerdings loeschen die mehr.

Nicht weit von der Vochelbude wohnt ein alter Mann, der gelegentlich abends auf ein paar Bier vorbeikommt, einige Muenzen in einen Spielautomaten wirft und an der Theke sitzend auf andere Gaeste einredet, die sich oft entnervt abwenden.

Nennen wir ihn Heinz. Er heisst in Wahrheit gar nicht Heinz, aber Heinz passt genauso gut wie sein richtiger Name. Heinz steht am Ende der Kneipenhackordnung, ganz unten, am Ende der Skala; er ist eher geduldet als geschaetzt, obwohl er schon seit ueber 40 Jahren dort zu Gast ist, es schon zu der Zeit war, als die Vochelbude noch ein Hotel war. Heinz ist klein von Statur, etwas untersetzt, traegt eine Brille, die seine Augen gross erscheinen laesst und traegt meistens einen Pulli ohne Aermel mit Hemd und Kravatte. In seiner kraeftigen Stimme liegt etwas militaerisch-zackiges, und er laesst keine Einladung zu einem Wortgefecht aus, womit er zu einigem Amusement beitraegt, weil er wie und als genauso vertauscht wie die vier Faelle der deutschen Sprache.

Gestern war Heinz auch wieder da, in der fast leeren Vochelbude, der Rest des sonst anzutreffenden Publikums erholte sich entweder vom Samstag oder fuer den Rosenmontag. Heinz erzaehlte mir von seinem Leben.

Als Heinz noch ein junger Mann war, musste er in den Krieg, an die Ostfront, wo er als MG-Schuetze Russen niedermaehen musste, bis er selbst von einem Hagel von Granatsplittern durchsiebt wurde. Seitdem hat er ein kaputtes Bein und Loecher in der Lunge. Heinz dachte, das wars, aber er wurde ausgeflogen und nach einem Lazarettaufenthalt an die Westfront geschickt. Man denkt immer, in Frankreich waere es angenehmer gewesen als im Osten, Stalingrad und so, aber Heinz meint, Frankreich waere die Hoelle gewesen. Anstatt gegen einen realen Gegner mit seiner M42 zu kaempfen, wurden die jungen deutschen Soldaten von den

unsichtbaren Mitgliedern der Resistance bei Nacht verschleppt, und am naechsten Morgen fand man sie nackt und mit abgeschnittenen Genitalien an einem Baum aufgehaengt.

Nach dem D-Day war es damit vorbei, Heinz kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wurde aber nach kurzer Zeit ausgetauscht und als Soldat wieder nach Italien geschickt. Auch dort geriet er in Kriegsgefangenschaft, und man wollte ihn als Kriegsverbrecher erschiessen, weil nach der Genfer Konvention ausgetauschte Gefangene nicht mehr am Kriegsgeschen teilnehmen duerfen. Wieder dachte er, das wars, aber auch diesmal hatte das Schicksal Erbarmen mit ihm. Er wurde ueber Ingolstadt und Bremerhaven nach England verschifft, wo er in amerikanischer Uniform mit einem Aufdruck "PW" (Prisoner of War) relative Freizuegigkeit und auch ein gewisses Ansehen genoss. Zwei Jahre blieb er dort, sah die groessten Bombentrichter des Zweiten Weltkrieges von den deutschen V2-Raketen, in denen sich soviel Wasser sammelte, dass man darin Bootfahren konnte. Sein Aufseher, ein britischer Corporal mit 7 Kindern, hauste mit seiner frierenden und hungernden Familie in einer kleinen Londoner Vorstadtwohnung ohne Tapeten. Die deutschen PWs sammelten regelmaessig ihre amerikanische Schokolade und schenkten sie den Kindern des Corporal, und als sie zwei Jahre spaeter ihr Schiff Richtung Heimat bestiegen, stand die ganze Familie winkend und mit Traenen in den Augen an der Peer. Heinz kann seitdem nicht mehr verstehen, warum die Menschen Kriege fuehren.

1947 sah seine Heimat nicht viel besser aus - Truemmerfrauen, Maenner ohne Gliedmassen, Schattenwirtschaft, Schwarzmarkt. Und Entnazifizierung. Noch bevor er den ersten Spaziergang auf heimischem Boden machen konnte, wurde er wieder interniert. Man stellte ihm Fragen, ihm, Heinz, dem "Schuetzen Arsch", ob er mit seiner M42 Soldaten totgeschossen haette. Er wisse es nicht, glaube es aber, antwortete er. Warum, wollte man wissen, und er sagte: Aus purer Angst. Da liessen sie ihn gehen.

Ueber die folgenden Jahre ist nicht viel bekannt, wohl aber, dass er eine Kriegsversehrtenrente von 68 Mark monatlich bekam. Viele Jahre spaeter, in meiner eigenen Jugendzeit, muss ich ihn das erste Mal gesehen haben, in seiner neuen Funktion, die er, genau wie im Krieg, in Uniform verrichtete. Heinz hatte keine Ausbildung und keine reichen Eltern gehabt, und er wurde staedtischer Bediensteter. Seine Aufgabe war es, morgens die oeffentlichen Toiletten der Stadt zu oeffnen, abends wieder zu verschliessen, und zwischendurch sauberzuhalten. Heinz gehoerte ueber Jahrzehnte zum Stadtbild. Mit einer orangefarbenen Weste, wie sie auch Strassenbauarbeiter tragen, sah man ihn mit seiner Mofa und einem Anhaenger durch die Stadt knattern. Weil Heinz einen kleinen Schnurbart trug, genau so einen wie der "GroeFaZ", nannten ihn die Jugendlichen der Stadt hinter vorgehaltener Hand den "Scheisshaus-Adolf". Eigentlich schaeme ich mich ein bisschen dafuer.

Eines Tages besuchte zu einem feierlichen Anlass die britische Queen unser kleines Staedtchen; ich glaube, es war zum 1250-jaehrigen Jubilaeum der Gruendung. Heinz, der zwei Jahre seines Lebens in England verbracht hatte, wollte sich das nicht entgehen lassen. Er erzaehlte mir, wie schwierig es fuer ihn war, einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Ein Polizist wollte ihn aufhalten und durchsuchen, und es war eine schreckliche Enge wegen der vielen Menschen. Aber schliesslich hatte er es geschafft, er war ganz vorn und sah die britische Koenigin, wie sie laechelnd und huldvoll der Menge entgegenschritt und einigen die Hand reichte. Mit diebischer Freude erzaelte mir Heinz, wie auch er ihre Hand schuetteln durfte, die Hand einer so hohen, anmutigen und wuerdevollen Person, ihm, dem kleinen Mann, dem Scheisshauswaechter der Stadt, ohne zu wissen, wen sie vor sich hatte. Heinz sagt, er sei bis heute stolz darauf.

Das war sie, die Geschichte von Heinz. Sicherlich eine lueckenhafte Geschichte, denn Heinz hat uns zum Beispiel nicht erzaehlt, ob er sich die Haende vorher gewaschen hat und auch vieles andere wissen wir nicht von ihm. Ich kann seit gestern nur sagen, ich bin froh, dass es noch Heinze gibt auf dieser Welt, egal was die anderen von ihnen denken oder um wievieles besser sie sich halten. Wenn Heinz von frueher erzaehlt, werde ich nicht mehr auf Handies achten oder huebsche Frauen, sondern ich werde ihm zuhoeren, denn er hat mehr zu sagen als manch anderer.

Vielleicht seid ihr einmal auf der Autobahn zwischen Kassel und Dortmund unterwegs; dann koennt ihr bei Wuennenberg abbiegen und durch einen Wald fahren, der sich alsbald zu einem malerischen Ausblick ueber die Bischofsstadt an den Quellen oeffnet, und am Horizont seht ihr bei gutem Wetter die bewaldete Huegelkette des Teutoburger Waldes und der Egge. Wer weiss, vielleicht fahrt ihr einmal in diese Stadt und kommt in die Vochelbude, und mit etwas Glueck trefft ihr dort den Heinz. Wenn nicht, es gibt sicher auch woanders Heinze.

Das war es, was ich Euch zu erzaehlen hatte, bleibt sauber und seid nett zu den Heinzen dieser Welt, denn es gibt nicht mehr viele von ihnen.

Uli

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ja, ich muß sagen: Hochachtung vor Heinz!

Da hätten in der heutigen zeit mit Problemen gleicher Größenordnung sicher ne Menge resigniert. So wie sich die Geschichte anhört hat er heute durchaus noch Freude am Leben und das ist bewundernswert.

Daß du ihn, eigentlich müßte ich auch schon respektvoll "Sie" sagen :), damals auch belächelt hast, ist denk' ich normal. Is heute doch nicht anders. Man macht sich halt keine Gedanken, was hinter den einzelnen Schicksalen alles so hintersteckt und dann kommen solche Sachen wie "Müllmann = doof". Wichtig ist, daß das ganze nicht so bleibt, sondern daß man bei jeder Person ein Mensch steckt (siehe Beagols Sig :D ). Und ich denke, allein, daß du, äh Sie, ihm zugehört haben war ne tolle Sache für Heinz. Überhaupt, Respek vorm Alter ist sehr wichtig denke ich. Leider wird das von vielen in meiner Altersgruppe als nicht mehr notwendig angesehen... ich denke, die werden sich noch wundern. ich mach mir jedenfalls Gedanken über die Zukunft und damit auch, wie ich in Zukunft behandelt werden möchte. Jetzt ist schnell Vergangenheit; auch schön aber "was interessieren mich die Alten" ist auch k****!

in diesem sinne: schöne Grüße an Heinz! :D

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  • 4 Wochen später...

Ich muß zugeben, daß es mir bis vor kurzem auch immer irgendwie unangenehm war, wenn ich einem "Heinz" über den Weg gelaufen bin. Ich hatte immer das Gefühl, sie seien irgendwie komisch oder so.

Außerdem ging im gleichen Moment noch ein Gedanke durch meinen Kopf: Was ist, wenn Dich einer sieht, wie Du mit Heinz redest? Die lachen Dich doch aus!

Doch diese Angst habe ich nicht mehr.

Heinz ist einer derjenigen (wenigen) Menschen, die eine GESCHICHTE haben. Sie haben Dinge erlebt, die unsereins gar nicht erleben möchte, weil wir wohl auch daran zerbrechen würden.

Und dennoch kümmert sich keiner um sie, denn sie sind in den Augen der Mehrheit Abschaum.

Mittlerweile habe ich die Angst vor Abschaum verloren. Sicherlich bin ich jetzt nicht eine barmherzige Samariterin geworden, aber es ist mir zumindest sch... egal, was die Leute von mir denken, wenn ich mit einem solchen "Ausgemusterten" rede.

Und genauso komisch wird man ja angeschaut, wenn man sich mit Randgruppen beschäftigt.

Ich gehöre mittlerweile selber zu einer, die mehr als einmal in der Öffentlichkeit zerrissen wurde und mit falschen Bildern belegt wurde. Doch ich kämpfe für das, was ich bin und was ich nach außen zeige. Auch, wenn bestimmt nicht alle Miglieder von Randgruppen eine GESCHICHTE haben, so haben sie aber doch eine eigene Lebenseinstellung. Und solange diese nicht auf Kosten der anderen Menschen geht, sollte man sie akzeptieren, auch wenn sie mit der eigenen nicht konform geht.

Wenn Ihr übrigens mehr wissen wollt über die "schwarze Szene", dann tut Euch mal einen Besuch auf http://www.gothics-culture-ev.de an. Da gibt es Infos über Infos und es wird keiner gezwungen, sich damit zu identifizieren.

So long!

Et Majoon

PS: Danke an gajus jUlius für diesen sehr guten Beitrag. Macht nachdenklich und das ist GUT so!

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Ich weiß nicht, was ich über diesen Eröffnungsbeitrag denken soll.

Er ist so einfach, daß ich zuerst dachte, es könnte Ironie oder Realsatire sein.

Inzwischen habe ich mir diesen Beitrag ein zweites Mal durchgelesen, und vermute nun, daß dem nicht so ist.

Warum schreibe ich das ? Weil ich eine irgendwie ähnliche Geschichte kenne.

Ein Großvater von mir hat ähnliches erlebt. Er war im Krieg, an der "Ostfront", und hat einiges durchgemacht. Von den Schrecken, die er erlebt hatte, hat er nie viel erzählt, nur einmal von Mienen, die sich - so sagte er - durch das Gehäuse von Panzern "hindurchbohren" konnten, ich habe nie ganz verstanden, wie das gehen sollte, und er einmal einen solchen Panzer gesehen hat, aus dem die Soldaten nicht schnell genug herausgekommen sind, als die Mine explodiert ist. Es hat ihn erschüttert.

Er war ihn Stalingrad, ist dem Massaker entkommen (ich glaube, vorher ausgeflogen worden, wenn ich mich richtig erinnere), und später in russische Kriegsgefangenschaft gekommen.

Das muß ein sehr hartes Leben gewesen sein, wo einem nichts geschenkt worden ist. Man mußte sein Obst unter das Kopfkissen tun, damit es nicht gesehen und geklaut wurde.

Eines Tages hat er Lungenendzündung bekommen; es muß ziemlich schlimm gewesen sein. Er dachte, er käme nie mehr wieder nach Hause zurück.

Das Schicksal hat ihn verschont. Er kam tatsächlich nach Hause zurück, in ein kleines Dorf im Westerwald, und von dem Treffen, als er und seine Frau sich dort wieder getroffen haben, haben beide noch lange erzählt.

Er hat lange Zeit in der Nähe von Leverkusen gearbeitet und ist später ganz normal in Rente gegangen. Er hatte einen friedlichen Lebensabend.

Vor ein paar Jahren ist er nach längerer Krankheit an Krebs gestorben. Ich habe zusammen mit den anderen Familienmitgliedern versucht, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen.

Seine Frau, meine Großmutter, besuche ich heute noch des öfteren.

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Ach ja, es gibt noch einen anderen "Heinz", den ich kenne:

An der Uni Köln gibt es einen Prof. der absolut unscheinbar ist. Wenn ihr jemanden sucht, der dem Klischee der "Grauen Maus" so nahe wie nur irgend möglich kommt, da gibt es einen, der dem sehr nahe kommt, fand ich immer zumindest.

Er ist sehr schuchtern, extrem unauffällig, und hat sogar leichte Probleme, sich bei seinen Studenten durchzusetzen, die in seiner Vorlesung sitzen.

Die Sache ist nur: Dieser Mann ist eine weltweit anerkannte, absolute Autorität auf seinem Gebiet ! Ich habe gehört, daß sogar Unis versucht haben, ihn von Köln abzuwerben.

Wenn ihr diesen Prof sehen würdet, ihr würdet nie im Traum daran denken, daß er auf seinem Gebiet so überragend ist...

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